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die Vize-Chefin des Partnerschaftskomitees in St. Pierre d’Albigny, baut Brücken – nicht nur als Dolmetscherin

Helga CastleSt. Pierre d’Albigny/Kernen. Eigentlich hat sie ja zwei Zuhause. Ein Häuschen im englischen Burwash, eines in St. Pierre d’Albigny. 1000 Kilometer Fahrtstrecke trennen Savoyen und Sussex. Und trotzdem unternahm die 75-jährige Helga Castle, Vize-Präsidentin im französischen Partnerschaftskomitee, 2012 die Reise gleich zweimal. Natürlich im britischen Rechtslenker.

Bei Stettener Partnerschaftsaktiven hat Helga Castle längst einen Namen. Wer sie so Französisch reden hört, meint, hinter den weichen Nasalen die englische Satzmelodie zu vernehmen. Ganz aus der Welt ist das nicht. 1961 war sie 23-jährig nach London gezogen, um nach dem Studium am Dolmetscher-Institut der Uni Heidelberg einen Job in der Auslandsfiliale des BDI anzutreten. Vier Jahre später heiratete sie Peter Castle, Bibliothekar im Victoria and Albert Museum. Sie gewöhnte sich an die britische Höflichkeit, bei der man sich „wie Kieselsteine die Ecken abschleift“. Und sie brachte in England, wo die deutschfeindliche Beaverbrook-Presse noch starken Einfluss genoss und die Generation ihrer Schwiegermutter Deutsche als „The Huns“ karikierte, zwei Töchter zur Welt.

Dolmetschen ist ein ambulantes Gewerbe. Anfang der 80er Jahre arbeitete die Übersetzerin in Bitterfeld für eine amerikanische Firma, die dem Arbeiter- und Bauernstaat eine Chloranlage installierte. Während ihre deutsche Familie eine „rabiate Einstellung zu Ostdeutschland hatte“, brachte sie, die in der DDR weit herumgekommen war, nach der Wende viel Verständnis für den Osten auf. Sie pflegte die Kontakte, erhielt als Partnerschaftsengagierte Einblicke in die deutsch-französische Partnerschaftsroutine unter sozialistischem Vorzeichen, als die ostdeutschen Bürgermeister mit Stasi-Schutzengeln nach Frankreich reisen durften, wo kommunistische Rathauschefs sie hofierten.

Mit 70 hörte die disziplinierte Frau auf zu arbeiten

Helga Castle, protestantisch erzogen, hat die deutsche Disziplin geerbt. Das ist kein Nachteil in einem Beruf, der einen in der Fremde immer wieder zwingt, neu zu starten. Und während die Französinnen bei der Berechnung ihres Renteneintrittsalters die Kinder angerechnet bekommen, so dass sie oft nicht einmal bis 60 arbeiten, hängte die Deutsch-Engländerin erst mit 70 den Beruf an den Nagel. Rekordverdächtig. „Die wollten mich festhalten, bis das Büro dann nach Paris und Lyon verlegt wurde“, erzählt sie. Zuvor aber, 1993, hatte Helga Castle einen Job in Bologna angenommen. Noch nie vorher war sie in Italien gewesen, Italienisch lernte sie aus dem Stand vor Ort.

Nur vier Jahre dauerte es, da verlegte ihre internationale Firma den Sitz über die Grenze nach Cruet nahe St. Pierre d’Albigny in Savoyen, und das Ehepaar Castle zog mit. Grenzen überschreiten, sich anpassen und einbringen ist für die energische, mutige Frau eine Art Lebensthema geworden. Frankreich war ein Neuanfang, mit 60 Jahren. „Ich hatte seit dem Abi kein Französisch. Ich habe das auch nicht gemocht. Französisch hat mich nicht interessiert“, erzählt sie. Im Isère-Tal nahm Helga Castle nach dem Tod ihres Mannes aber ein Fernstudium auf: 20 Stunden je Woche.

Sprachbeherrschung öffnet die Türen der Nachbarn. Vor allem aber: Raimond Becouse vom Partnerschaftsverein hatte bei ihr angeklopft: Er suchte anlässlich der 25-Jahres-Feier der Jumelage mit Stetten eine Dolmetscherin. Helga Castle erinnert sich gut: „Da lagen im Rathaus Zettel aus. Die suchten Gastfamilien oder jemanden, der Deutsch spricht.“ Die Neue legte sich ins Zeug, half Feste organisieren, wurde zur Vize-Chefin des Partnerschaftskomitees gekürt, gewann Freunde in Stetten. Überhaupt: Europa ist ihr, die als Kind noch den Krieg erlebte, ein Herzensanliegen.

In der Partnerschaft Grenzen überschreiten

Das Engagement trug dazu bei, Wurzeln zu schlagen. Die Protestantin Castle sitzt einmal im Monat in der ökumenischen Arbeitsgruppe in St. Pierre mit am Tisch. Michel Meynet, der katholische Priester, brachte sie dazu, im Gefängnis von Aiton ausländische Häftlinge zu betreuen. „Ich habe mich in den verschiedenen Ländern immer eingebracht, ohne dabei aufzugeben, was ich im Innern bin.“ Protestantin? Ma soeur hérétique, sage der Priester.

Hat diese Europäerin, diese Reisende, deren Töchter in England leben, ein Zuhause? „Ich gehöre mehr nach England als nach Frankreich“, gesteht sie freimütig, „weil ich dort tiefere Wurzeln habe, aber hier bin ich in das französische Dorfleben eingebunden, auf allen möglichen Ebenen.“ Wenn sie so hin- und herpendelt zwischen den Welten, spiele die Farbe des Passes keine Rolle. Und trotzdem: „Ich habe meine deutschen Wurzeln, das ist wichtig.“ Im August feierte Helga Castle ihren 75sten Geburtstag in ihrem Haus in Sussex.

Die Einkaufsliste erstellt sie auf Englisch. Ihrer Herkunft bewusst wird sich die Wahl-Französin, sobald sie in der Bäckerei in St. Pierre d’Albigny steht und die Rechnung überschlägt: „Wenn ich Kopfrechnen mache, dann auf Deutsch.“

Helga Castle, Europäerin und rührige Partnerschaftsaktive in St. Pierre d’Albigny.

 Quelle: Waiblinger Kreiszeitung, Hans-Joachim Schechinger, vom 05.01.2013

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