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60 Jahre nach dem Kriegsende erinnern sich zwei Franzosen aus St. Pierre d’Albigny an eine düstere Zeit – und an die Versöhnung

Waiblinger KreiszeitungSt. Pierre d’Albigny. Für die Menschen in St. Pierre d’Albigny endete der Zweite Weltkrieg im August 1944. Doch die Monate bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945 brachten noch nicht den erhofften Frieden. In den Hochalpen tobten erbitterte Kämpfe. Denis Riondy (67), Vater der Partnerschaft mit Stetten, sagt: „Wir erlebten das Kriegsende nicht euphorisch wie in Paris, eher als große Erleichterung.“

Waiblinger - Kreiszeitung vom 21.03.2005 Foto: Hans-Joachim SchechingerAls der Krieg im Mai 1945 zu Ende ging, gehörte Denis Riondy und Louis Perrier die Zukunft. Eine Zukunft, in der Deutschland, wie sich zeigen sollte, eine wichtige Rolle spielen würde. Colonel (Oberst) i. R. Louis Perrier erlebte die Kapitulation der Wehrmacht als Zwölfjähriger. Denis Riondy, später Gemeinderat und – trotz massiver Widerstände in St. Pierre – unbeirrbarer Verfechter der deutsch-französischen Aussöhnung, war bei Kriegsende 17 Jahre alt. Zwischen Deutschen und Nazis machten die jungen Savoyarden, die unter Wehrmacht, Gestapo und SS als grausame Invasoren und Besatzer gelitten hatten, keinen großen Unterschied. „Natürlich hat man aufgeatmet“, erinnert Denis Riondy den Mai 1945. „Da war keine Euphorie, eher Freude. Man erlebte es als Befreiung. Es gab zwar Feste, aber nicht so ausgelassene wie in Paris.“ Louis Perrier urteilt ähnlich: „Ich habe es als Erleichterung erlebt. Eine Erleichterung, die darin bestand, die Deutschen gehen zu sehen und endlich wieder in Ruhe leben zu können.“

Die Deutschen, das waren die verhassten „Boches“. SS und Gestapo führten in Savoyen gegen die französischen Widerständler der „Resistance“, deren meist junge Aktivisten aus dem Untergrund mörderische Anschläge verübten, Brücken und Strommasten sprengten, einen trotzigen, erbarmungslosen Kampf. Den Opfern der deutschen Angreifer und Besatzer sind auch in St. Pierre Straßen gewidmet. In der idyllischen Gebirgsregion „Les Bauges“ westlich von St. Pierre d’Albigny verübte die Gestapo im Sommer 1944 ein Massaker an Zivilisten, die auch unter Folter die Namen ihrer Kameraden nicht preisgeben wollten. Der 70-jährige Bürgermeister wurde mit ihnen erschossen. Mitten auf dem Dorfplatz. Eine Katastrophe, die sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.

Louis Perrier sagt heute: „Wir hatten hier ja permanent Attentate. Der Widerstand, das war Terrorismus, aber es war das Resultat einer Revolte gegen die Besatzung. Es gab da Morde von beiden Seiten.“ Denis Riondy: „Ich hatte ja keine Angst vor den Deutschen, aber die SS hat uns Angst gemacht. Die französische Gestapo war vielleicht noch schlimmer.“

Im Frühjahr 1945 hatte sich die Front auf die hohen, verschneiten Alpenkämme entlang der italienischen Grenze verschoben. Dort drängten zwischen August ‘44 und Mai ‘45 französische Gebirgsjäger die Einheiten der Wehrmacht in erbitterten Scharmützeln nach Osten zurück. Amerikanische Flugzeuge unterstützten die Franzosen mit Bombardements der Versorgungslinien: Sie zerstörten im August 1944 die Pont Royal bei St. Pierre d’Albigny, eine heute wieder vielbefahrene Is‘ere-Brücke, über die es hinauf in die „Maurienne“ geht. „Für uns war und ist es völlig unverständlich, dass sich zwei Völker mitten in Europa bekriegen“, ringt Louis Perrier noch immer um eine Antwort auf das Warum. „Uns Jugendlichen wurde gesagt: Ihr müsst euch vor den Deutschen hüten.“ Ein Misstrauen, das sich in den 50er Jahren milderte, als Frankreich tief im Sumpf der Kolonialkriege in Indochina und Algerien steckte. Eine andere Front war da eröffnet.

Perrier schlug die Offiziers-Laufbahn ein. 1963 kam er nach Konstanz, wurde später als Colonel nach Berlin abgeordnet und dort Zeuge des Eisernen Vorhangs. „In dieser Zeit habe ich die deutsch-französische Freundschaft erlebt“, sagt der Mann heute, dem die Verständigung eine Herzenssache geworden ist. „Mein Herz und das meiner Kinder ist heute offen für Deutschland wie für Italien oder Spanien.“

Die im Département unvergessenen deutschen Massaker waren für Denis Riondy anfangs das größte Hindernis auf dem Weg zur deutsch-französischen Jumelage. Zwölf Jahre lang amtierte er als Gemeinderat in St. Pierre Waiblinger - Kreiszeitung vom 21.03.2005 Foto: Hans-Joachim Schechingerd’Albigny. Als der Kommunalpolitiker in den 60er Jahren vorschlug, Kontakt mit Stetten aufzunehmen, stürzten heftige Anfeindungen und Drohungen auf ihn ein. Eine Frau, deren Sohn die Deutschen auf dem Gewissen hatten, schimpfte ihn in einer Metzgerei öffentlich „assassin“ – Mörder. „Wir hatten damals die Wahl zwischen Italien, England und Deutschland. Ich wollte die Partnerschaft mit Deutschland, um miteinander zu reden und endlich die Konflikte aus der Welt zu schaffen.“ Das Hauptmotiv für den Partnerschaftsengagierten aus Frankreich: „Es gab da vieles zu entschuldigen und vieles zu lernen über die anderen.“ Trotz hartnäckiger Widerstände – die Freundschaft gedieh wie ein Pflänzchen auf kargem Boden. Im Remstal war Riondy immer wieder zu Gast, und Freundschaften wuchsen. „In Stetten fühlte ich mich wie bei mir zu Hause“, sagt der 67-Jährige und lächelt.

60 Jahre nach der Kapitulation stimmt das Verhältnis der Feinde von damals. Deutsche und Franzosen wissen voneinander, pflegen das Miteinander. „Vier von sieben Enkeln sprechen Deutsch, ein gutes Zeichen“, freut sich Partnerschaftspionier Riondy. Auch die ressentimentsgeladene Gleichung Deutscher und Nazi scheint in Savoyen überwunden. Auf dem Mahnmal zu Ehren der Ermordeten in „Les Bauges“ steht heute: „Opfer der Nazi-Barbarei.“

Quelle:  Waiblinger – Kreiszeitung vom 21.03.2005  Text: Hans-Joachim Schechinger Foto: Hans-Joachim Schechinger

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